„BRUDER BLAU-AUGE“ ODER: DIE WAHRE GESCHICHTE VOM VERLORENEN SOHN

Ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass es bei den Geschwistern im Märchen wie in der Bibel meistens die Jüngsten sind, die eine besondere Rolle spielen? Der Kleinste findet als Dummling „Die Goldene Gans“, rettet Tier und Mensch in „Die Bienenkönigin“ oder gewinnt das Königreich in „Die drei Federn“; die jüngste Tochter knallt den „Froschkönig“ gegen die Wand, überlebt als siebtes Geißlein im Uhrenkasten oder rettet die „Zwölf Brüder“ und die „Sieben Raben“; der letztgeborene Bruder zieht aus, das „Fürchten zu lernen“, erbt den „gestiefelten Kater“ oder fängt den „goldenen Vogel“.

Ebenso ist es bei den biblischen Geschichten. Es sind die Jüngsten, die auserwählt sind und den Segen tragen: Abel wird dies zum Verhängnis; bei den Erzvätern und -müttern tragen die Jüngsten den Segen: Isaak, Jakob, Rahel, Benjamin; Mose, Gideon, David werden berufen, obwohl oder gerade weil sie ältere Geschwister haben; die jüngere Schwester Maria hat das bessere Teil erwählt.

Eine Umkehrung des Senioritätsprinzips, der herrschenden Werte in der Welt. Die unscheinbare Jüngste, der weltfremde „Bruder Blau-Auge“, die versonnene Träumerin – sie bestimmen hier den Lauf der Geschichten. Nicht, weil sie irgendwie besser, klüger oder stärker wären. Im Gegenteil. Sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sich ihnen das fundamentale Angewiesen-Sein auf „Wünsche“ (Märchen) und „Wunder“ (Bibel) besonders erschließt, weil sie eben sonst nichts haben.

Ähnlich ist es bei der Geschichte „Vom verlorenen Sohn“ (Luk 15,11ff.). Natürlich ist es wieder der Jüngere. Und auch er wird auf besondere Weise erfahren, wie fundamental angewiesen und zugleich wundersam angenommen er ist.

Aber: Kennen Sie eigentliche die wahre Geschichte? Ich meine, so wie es sich tatsächlich zugetragen hat? Viele Gleichnisse, die Jesus erzählt hat, erschließen sich erst wirklich, wenn man sie „auto-fiktional“ versteht: Es sind Erzählungen, die vom Erzähler handeln. Jesus wird in den Geschichten selbst zum Gleichnis. So ist das auch bei der Geschichte „Vom verlorenen Sohn“. Ich glaube, dass sich Jesus, der „einziggeborene“ Sohn Gottes, in dem jüngeren Sohn spiegelt. Und dass die Geschichte des „Sich-Verlierens“ eine ganz neue Dimension erhält, wenn man sie auf dem Hintergrund der freiwilligen Selbsthingabe Jesu liest. Ein Versuch:

Ein Vater im Himmel hatte einen einzigen jüngsten Sohn. Und der Sohn sprach zu dem Vater: „Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht.“ Und er gab es ihm.

Theologischer Impuls 43 von Dr. Thorsten Latzel
zum 8. Dezember 2019KOMPLETTE TEXTFASSUNG